Wenn niemand merkt, wie krank du wirklich bist



Ich drücke den Snooze-Button auf meinem Wecker, nur noch zehn Minuten. 
Ich fühlte mich wie gerädert, frage mich, wie ich aus dem Bett kommen soll. 
Die letzte Nacht habe ich wieder schlecht geschlafen, im Traum ist meine Welt untergegangen. 
Das träume ich häufig, wenn es mir nicht gut geht.
Ich quäle mich aus dem Bett, ziehe mich an, lese die Nachricht einer Freundin, die mich heute Abend treffen will, lege das Handy zur Seite, ohne zurückzuschreiben, mache mir einen Cappuccino. 
Dann setze mich auf mein Bett. Die Tasse mit beiden Händen umfassend, heule ich in meine Tasse rein.  
Dann stehe ich auf, kühle meine verquollenen Augen mit reichlich Wasser, trage Mascara auf und gehe schließlich zur Arbeit.
So fangen viele meiner Tage an – ohne, dass irgendetwas Schlimmes passiert wäre. 
Dass vor dem Betreten des Büros ein ständiges "Ich kann nicht mehr" in meinem Kopf kreist, merken die Kollegen nicht. 
Auch, dass ich heute Abend wieder allein auf meinem Sofa liegen und mein Leben infrage stellen werde, weiß niemand. 
Die 6 Stunden am Tag, während ich in der Arbeit bin, kann ich durchhalten.
Was ich habe, wird manchmal eine hochfunktionale Depression genannt. 
Die Symptome sind teilweise recht ähnlich wie bei einer klassischen Depression: innere Leere, Schlafstörungen, ein bleiernes Gefühl in den Beinen – das ganze Programm. 
Der wesentliche Unterschied ist: Ich kann den Löwenanteil meines Alltags noch bewältigen, ich kann arbeiten gehen, habe Erfolg im Job. 
Für viel mehr reicht meine Energie normalerweise allerdings nicht aus.
Bei solchen Symptomen sprechen Psychologen von einer atypischen Depression. 
Denn im Gegensatz zu einer klassisch depressiven Patientin funktioniere ich eben noch gut. 
Hinzu kommen eventuell körperliche Leiden – in meinem Fall sind das chronische Schmerzen im Rücken und Kopfschmerzen. 

Was ist eine atypische Depression?
Bei einer atypischen Depression können die Patienten situationsangemessene Gefühle zeigen. Oftmals weisen Betroffene gegenteilige Symptome zu einer klassischen Depression auf, wie zum Beispiel ein erhöhtes Schlafbedürfnis oder mehr Appetit. 
Weil die Krankheit eben atypisch verläuft, wird sie oftmals lange Zeit nicht diagnostiziert. Aktuell leidet etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland an einer depressiven Erkrankung.

Es ist schwer zu erklären, was genau sich nicht gut anfühlt und schwer abzuschätzen, wann das Gefühl einsetzt. 
Die Depression ist nun schon so lange da, dass sie zu einem guten, alten Freund geworden ist. 
Der besucht einen ja auch nicht ständig. 
Aber wenn, dann gerne mal unangemeldet.
Dass ich depressiv bin, wissen die wenigsten. 
Ich zeige es auch nicht. 
Ich bin froh, dass ich in der Lage bin, zu entscheiden, ob ich es zeige. 
Ich bin froh, dass ich aufstehen kann, mich duschen, zur Arbeit gehen. 
Ich bin froh, dass ich reden und lachen kann. 
Aber ich lebe in der ständigen Gewissheit, dass ich diese Fassade nicht für immer aufrecht erhalten kann. 
Depression zu erklären, ist schon schwierig genug. 
Wenn du dein Bein brichst, dann kannst du deinen Gips zeigen und alle wissen Bescheid – das geht bei einem seelischen Leid natürlich nicht.
Depression ist quasi, wenn das Bein gebrochen ist, den Bruch vielleicht niemand sieht, aber du trotzdem nicht mehr laufen kannst. 
Hochfunktionale Depression ist, wenn man in großen Sätzen durchs Leben springt und der Knochen jedes Mal ein bisschen mehr knackst. 
Wann und ob er durchbricht, weißt du nicht. 
Und der Schmerz ist geradeso zu ertragen, wenn die anderen zugucken. 
Mittlerweile bin ich in Therapie. 
Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und meiner neuen Ärztin erzählt, was los ist. Wie schwer es mir fällt, meinen Alltag zu bewältigen – obwohl ich es eigentlich schaffe. 
Wie sehr mein ganzer Körper manchmal schmerzt. 
Dass ich oft nur vier Stunden pro Nacht schlafe – und dann ganze Wochenenden nicht aus dem Bett komme. 
Und tatsächlich hat sie mir zugehört – und mich ernst genommen.
Unbefangen über meine Depression mit anderen sprechen kann ich immer noch nicht. 
Ich habe immer noch den Eindruck, irgendetwas beweisen zu müssen – dass es mir WIRKLICH schlecht geht, auch dann, wenn ich es gerade nicht zeige. 
Ich will mich gerade auch gar nicht darauf konzentrieren müssen, meinen Freunden von meinen Problemen zu erzählen. 
Ich möchte erst einmal lernen, nicht ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs zu leben. Überlebensstrategien finden, die nachhaltiger sind, als sich lediglich durch den Büroalltag zu quälen.
Ich glaube, psychische Krankheiten sind nach wie vor ein Tabuthema. 
Es ist schwierig, über sein seelisches Leid zu sprechen. 
Weil man es eben so schlecht beweisen kann. Gleichzeitig glauben viele Menschen, dass Depressionen und andere Leiden mit einer katastrophalen Vehemenz über einen hereinbrechen müssen, damit sie zählen. 
Das stimmt nicht. 
Manchmal kommt Krankheit auch langsam und schleichend, aber stetig. 
Und dann ist es wichtig, das nicht über Jahre hinweg zu ignorieren – und sich selbst auch zu verzeihen, wenn man sich nicht gut fühlt. 
Ich selbst habe mich Jahrelang dafür beschimpft, weil ich nicht stärker sein konnte. 
Jetzt weiß ich, dass das nicht richtig war.
Vergesst also nicht: Nur, weil jemand gut ist, fühlt er sich nicht unbedingt gut. 
Nur, weil jemand erfolgreich ist, spürt er seinen Erfolg nicht automatisch. 
Und nur, weil jemand funktioniert, heißt es nicht, dass er keine Angst davor hat, nicht mehr zu funktionieren. 







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